– Industrialisierung Russlands forderte Millionen Hungertote
– Was trieb den Diktator Stalin zu seiner rücksichtslosen Politik?
von Albrecht Künstle *)
Vor 90 Jahren verhungerten in der damaligen Sowjet-Ukraine 3 bis 7 Mio. Menschen. Doppelt bis dreimal so viele, wie dem Völkermord der Armenier durch die Jungtürken zum Opfer fielen. Am 30. November will der Bundestag auch den sogenannten Holodomor als Völkermord anerkennen. Dies auf Antrag von Abgeordneten der CDU/CSU und der Regierungsparteien, liest man in der Presse. Nicht ganz, so ist‘s richtig: „Initiiert vom Vorsitzenden der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Robin Wagener. In der Resolution wird der Holodomor in den Jahren 1932/33 als Genozid am ukrainischen Volk anerkannt“ werden, weiß auch Wikipedia.
Dieser Holodomor war, wenn kein Ziel Stalins, so doch ein menschenverachtender Kollateralschaden der Industrialisierungspolitik der Sowjets. Die gerade erst kollektivierte Landwirtschaft mit ihren Kolchosen und Sowchosen sollte die städtische Bevölkerung mit ihren Industriearbeitern mästen, auch wenn sowohl einfach Bauern als auch wohlhabendere Kulaks mit ihren Familien erbärmlich ums Leben kamen. Denn das Aufholen in der Rüstung war und ist ohne eine industrielle Basis nicht möglich. Dieser Industrialisierung der Sowjetunion forderte einen ungleich höheren Tribut als die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts.
Aus einem Rückstand heraus machte Stalin schon vor dem 2. Weltkrieg gemeinsame Sache mit Amerika. So auch beim Bau des Dnjepr-Staudamms, als Stalin noch von den USA schwärmte. Offensichtlich schaute die Welt zusammen mit Deutschland über den erschreckenden Opfergang hinweg, der sich im Schatten der Zusammenarbeit abspielte. Wie schon 1915 in der Türkei, als die christlichen Armenier der türkischen Militärallianz mit Deutschland geopfert wurden.
Warum die Sowjets, wie später auch Mao, eine rücksichtslose Industrialisierung betrieben, darüber streiten sich Historiker und Ökonomen. Klar dürfte nur sein, dass die Eile der Industrialisierung der militärischen Stärkung diente. Dennoch reichte sie nicht aus. Russland war aus eigener Kraft nicht in der Lage, den Angriff von Hitlers Armee abzuwehren und umzudrehen. Panzer und anderes Material wurden aus den USA ins eisfreien Murmansk verschifft und dann Richtung Westen gegen Deutschland eingesetzt.
In der öffentlichen Debatte wird jedoch ausgeblendet, so meine These, dass der Holodomor letztlich auf der Bedrohung aus dem Westen beruht haben dürfte. Zu dieser These der folgende Meinungsaustausch (zum Krieg in der Ukraine):
Künstle an einen Freund: Ich denke, so wie es den Stalinismus in seiner bekannten Form ohne Hitlers absehbaren Angriff nicht gegeben hätte, so dürfte es auch mit dem Putin-Regime sein. Ohne die expansive NATO würde Putin vermutlich nicht Amok laufen.
Dieser widersprach: Irrtum, ‚Solschenizyn, Archipel Gulag‘! Der stalinistische Terror in Höchstform tobte in den 1930er Jahren, weit vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941…Den Hungermassenmord an den Ukrainern (Holodomor) vergessen? Putin hatte die Chance, sein Land demokratisch weiterzuentwickeln, er hat sie zugunsten seiner imperialistischen Träume vertan…
Künstle: Deine Geschichtsbetrachtung beginnt erst in den 30er Jahren. Aus einer Originalausgabe „Mein Kampf“, im 2. Band aus 1927, 14. Kapitel „Ostorientierung oder Ostpolitik“, proklamierte Hitler gleich zu Beginn auf den Seiten 728 ff. den künftigen Lebensraum im Osten, in Russland. Meinst Du, das blieb Stalin verborgen? Nur war dieser so blöd oder so schwach, mit dem Hitler-Stalin-Pakt den Angriff aufhalten zu wollen. Und räumte alle aus dem Weg, die seine furchtbare Weltanschauung nicht teilten.
Sein Widerspruch: Was Hitler 1927 nach seinem missglückten Putsch 1923 veröffentlichte, interessierte in der Sowjetunion damals keine Sau. Stalin war da noch gar nicht an der Macht. Lebensraum im Osten musste auch nicht zwangsläufig das Gebiet der SU betreffen, es war eher eine Metapher. Für die Nazis war der Hauptfeind Frankreich und Polen, die das Reich benagt hatten…
Künstle: Doch, 1927 kam Stalin an die Macht. Und er war sehr belesen, wie diese Biographie belegt. In „Mein Kampf“ hat Hitler sehr dezidiert beschrieben, wo sein Lebensraum im Osten ist. Es war nicht Polen, das war ihm nur im Weg. Ebenfalls nachzulesen bei Sebastian Haffner im „Teufelspakt“. Aber unterlassen wir einen „Historikerstreit“, es gibt Wichtigeres. (Ende des Disputs)
Zum schlimmen Holodomor ist zu ergänzen, dass die USA eine differenzierte Position einnehmen: „Am 23. September 2008 erkannte das Repräsentantenhaus des Kongresses der USA den Holodomor in der Ukraine von 1932 bis 1933 als Genozid am ukrainischen Volk an. Nach anderer Quelle wurde dabei zwar der genozidale Charakter des Holodomor klar beschrieben, die Bezeichnung als Genozid jedoch bewusst vermieden“ (Quelle). Wahrscheinlich, weil die USA mit ihren Geschäftsbeziehungen zu Stalin Schuld auf sich geladen hatten.
Auch fehlt in der aktuellen Debatte der Hinweis, dass die Ukrainer zwar mit 80 Prozent der Hungertoten die Hauptlast von Stalins Terror trugen. Aber unter den restlichen 20 Prozent mussten auch viele deutschstämmige Russen ihr Leben lassen. Schauen wir einmal, ob mit der Resolution im Bundestag nur Selenskyj unter die Arme gegriffen wird, oder ob auch unsere Toten vorkommen.
Das Völkerrecht ahndet einen Genozid erst seit 1951 mit seiner „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“. Eine strafrechtliche Rückwirkung könnte schwierig sein, aber es lebt wohl auch niemand mehr, der persönlich für den hingenommen Massenmord herangezogen werden könnte. Dennoch ist die Einstufung des Holodomor als Völkermord richtig, auch wenn dieser nicht das eigentliche Ziel war, umso mehr die wissentliche Inkaufnahme der rücksichtlosen Industrialisierung.
Wer wird einmal die Ukraine für ihren langjährigen Krieg gegen die russische Bevölkerung des Donbass, und jetzt auch Putin mit seiner mehrfachen „Retourkutsche“ zur Rechenschaft ziehen? Und den Westen, der die Ukraine zum Testgebiet für neue Waffen macht, um die Russen in der Ukraine zu „kompostieren“, wie es aus der Ukraine heißt. Nur die Soldaten? Die Geschichte wird es zeigen, oder auch nicht – die herrschende Geschichtsschreibung ist immer die Geschichtsschreibung der dann Herrschenden.
Zum Holodomor: Bundeszentrale Polit. Bildung, Politische Bildung B-W, Süddeutsche
*) Informationen zum Autor siehe HIER
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